Beschreibung
Mahmoud Dabdoub • Andreas Koslowski • Armin Kühne
Menschenleer
Leipzig – Fotos einer Stadt im Lockdown
Festeinband, 96 Seiten
22 x 29 cm, 126 Abbildung
ISBN 978-3-95415-110-3
Ein Bildband über Leipzig – jeder Fotograf möchte am liebsten die Besonderheiten der Stadt in Szene setzen. Das ist zum einen die Architektur, sehenswerte Gebäude aus mehreren Jahrhunderten – aber auch die Lebendigkeit und Lebensfreude. Meisten stört es beim Fotografieren, wenn Busse, Bahnen oder Autos den Blick auf die denkmalgeschützten Objekte der Begierde verstellen. Im Frühjahr 2020 war alles anders. Aus dem traurig-dramatischen Anlass, der Corona-Pandemie, gab es den möglicherweise einmaligen Moment, die Stadt in Erstarrung zu erleben – es fehlen die Menschen. Die Fotos in diesem Band erzeugen eine stille Faszination.
Rezension
Von Ralf Julke
15. Oktober 2021
Eigentlich, so stellt es auch Bert Sander in seinem Vorwort zu diesem Fotoband fest, ist das der stille Traum von Architekturfotografen: Straßen und Plätze menschen- und autoleer, der Blick auf die Stadt unverstellt und ungestört. Aber als das im Frühjahr 2020 tatsächlich geschah, empfand es nicht nur Bert Sander als gespenstisch. So stille Fotos haben die drei Fotografen Mahmoud Dabdoub, Andreas Koslowski und Armin Kühne noch nie zuvor gemacht.
Ende März, im April und Anfang Mai gingen die drei immer wieder los und fotografierten vor allem die Leipziger Innenstadt, die im ersten Lockdown, in dem wir alle noch nicht wussten, wie heftig die Corona-Pandemie uns treffen würde, tatsächlich wie ausgestorben war, weil sämtliche Gaststätten, Museen und Kaufhäuser geschlossen waren.
Alle hatten noch die Bilder aus Norditalien im Kopf. Das wollte niemand erleben. Und da es weder Tests noch mögliche Impfungen gab, griffen Regierungen in aller Welt zu dem in früheren Pandemien immer wieder wirksamen Mittel des kompletten Lockdowns.
Frühjahr 2020: Als sich unser aller Leben im Turbomodus drehte
Nur so ließen sich mit geradezu brachialer Wucht die Infektionsketten unterbrechen, mögliche Infektionsherde eingrenzen und die Intensivstationen vor Überlastung bewahren. Die Stadtverwaltung ließ Plakate drucken, die zum Abstandhalten aufriefen. Auf den Böden von Einkaufscentern und Supermärkten erschienen die bunten Abstandhalter. In einer erstaunlichen Geschwindigkeit veränderte sich unser Leben.
Anderthalb Jahre später haben wir zwar immer noch mit der Pandemie zu tun, aber inzwischen gehören viele Dinge – wie Masken und Impfungen – zu unserem Alltag. Und einen so harten Lockdown wie im Frühjahr 2020 hat es seither auch nicht wieder gegeben. Auch nicht diese Stille und diese frappierend leeren Straßen, die die drei Fotografen ja auch im Bild festgehalten haben.
Die unsichtbare Gefahr – und ein Feind, der keiner ist
Sander betont sein sehr ambivalentes Verhältnis zu den so entstandenen Fotografien: „Anders ausgedrückt, diese Bilder sind falsch; es können keine schönen Bilder einer Stadt sein, denn: Sie sind infiziert.“ Was ich aber gar nicht für schlimm halte. Denn dieses Frühjahr 2020 sitzt uns ja nicht nur in den Knochen, hat manche von uns das blanke Entsetzen gelehrt, weil diese stillgelegte Stadt eben darauf verwies, dass wir es mit einem für das bloße Auge unsichtbaren Feind zu tun haben.
Der eigentlich kein Feind ist, sondern schlicht der winzige Bewohner einer völlig anderen Population, dem es aber – irgendwo in Asien – gelungen ist, auf den Menschen überzuspringen. So, wie es schon vielen Viren im Lauf der menschlichen Zivilisation gelungen ist, weil der Mensch ganze Lebensräume veränderte und zerstörte, die Wirtstiere dieser Viren jagte und verspeiste und bis weit in die Neuzeit hinein unter unhygienischen Zuständen lebte, die die Ausbreitung aggressiver Virenstämme geradezu befeuerten.
Es fehlte nicht an Warnungen
Nur die moderne Hygiene im Verbund mit einer zunehmend wissenschaftlichen Medizin hatte uns in den vergangenen Jahrzehnten in dem Trugschluss gewiegt, dass wir die Sache im Griff hätten. Und würden sich Menschen vernünftig verhalten, wäre das auch so. Aber das tun sie eben nicht. Und seit 20 Jahren hat die WHO immer wieder gewarnt, dass ein solcher Virus für eine weltweite Pandemie sorgen würde. Vorboten hatte es genug gegeben.
Aber wer hört schon auf wissenschaftliche Warnungen?
Als die Stille hereinbrach
Und so erlebten 2020 auch die Leipziger, was es bedeutet, wenn ein Virus mit den Verkehrsströmen der Globalisierung binnen weniger Wochen rund um den Globus aktiv wird. Die großen Städte überall in der Welt verwandelten sich im Lockdown in solche erschreckend stillen Orte. Oder auch erstaunlich stillen Orte. Auch das gehörte zu diesem verordneten Stillstand.
Denn da all die sinnlosen Fahrten mit dem Pkw nicht mehr stattfanden, mit denen auch hunderttausende Leipziger glauben, ihr Leben bewältigen zu müssen, war es mitten in der Woche, am hellichten Werktag, mucksmäuschenstill in der Stadt, hörte man die Vögel wieder und erlebte ein sonniges Frühjahr, wie es lange nicht mehr zu erleben war in der völlig verlärmten Stadt Leipzig.
Die wirkliche Stille der Welt
Man hörte wieder, was sonst schlicht nicht zu hören ist: den tatsächlichen Klang unserer Welt. Und Mancher ging natürlich mit gespitzen Ohren herum, völlig überrascht, denn diese Stille zeigte auch, wie sehr Leipzig all seine Lärmschutzpläne versemmelt, vergeigt und vergurkt hat.
Heute ist das alles nur noch Erinnerung. Genauso wie diese leer geräumten Regale im Supermarkt, aus denen etliche Zeitgenossen sämtliches Toilettenpapier und die Nudelvorräte weggehamstert hatten. Da wurde augenscheinlich eine uralte Erinnerung wieder angefacht aus Zeiten, als solcher Stillstand der großen Transportwege tatsächlich zu einer Versorgungsnot geführt hatten.
Ganz so schlimm kam es ja bekanntlich nicht. Und die Mahnungen der Supermarktleitungen an die Kunden, nur wirklich zu kaufen, was gebraucht wurde, sind auch längst wieder Geschichte. Schon im Sommer normalisierte sich das Leben wieder weitgehend.
Der Mensch, das soziale Wesen
Den haben die drei natürlich nicht fotografiert. Das war schon wieder viel zu normal (auch wenn es das in Wirklichkeit noch nicht war). Aber sie zeigen jene Tage im Mai, als sich das Ende des harten Lockdowns ankündigte und die Innenstadt-Gastronomen wieder Tische und Stühle hinausstellten, Aschenbecher, Ziersträucher und Sonnenschirme in Vorfreude auf die Gäste.
Denn die Restaurantbesuche fanden dann erst einmal vorwiegend im Freien statt. Und wir strömten. Oder auch nicht. Denn Viele sind bis heute vorsichtig geblieben. Andere suchten sich auch noch das letzte freie Plätzchen im Freisitz. Denn auch das haben wir ja gelernt: dass wir es ohne einander eigentlich auch nicht aushalten.
Wir sind keine Höhlenbewohner, sondern sogar sehr gesellige Tiere. Und tatsächlich werden wir krank, wenn wir einander nicht treffen können, nicht endlos reden und schwatzen und prahlen, einfach ganz erfüllt davon, Mensch unter Menschen sein zu können. Dieser Teil der Pandemie beschäftigt uns bis heute und beeinflusst alles – vom Streit über die Maskenpflicht in den Schulen über die Öffnung von Clubs und Theatern bis hin zur Diskussion über die Impfpflicht. Immer geht es auch um die Ermöglichung von Nähe und Geselligkeit. Eine schwierige Balance, wie wir nun nach anderthalb Jahren wissen.
Mit Gefahren umgehen lernen
Deswegen erzählen die Bilder der menschenleeren Leipziger City auch von einer Katastrophe, die ausgeblieben ist. Die vielleicht gerade deshalb verhindert wurde, weil wir alle einfach mal ein paar Wochen auf Nähe und Geselligkeit verzichteten, ins Homeoffice verschwanden oder eben leider auch in viel zu kleine Wohnungen, in denen sich auf einmal Familien mit Kindern eingesperrt sahen.
Die leere Stadt war wie ein Menetekel und eine Frage: Würden wir es schaffen, wenn wirklich mal ein richtig aggressives Virus um die Welt jagt? Sind wir darauf vorbereitet? Oder bleibt uns dann tatsächlich nur, unsere Städte für Wochen und Monate in Gespensterstädte zu verwandeln?
Die Frage wurde nicht wirklich beantwortet. Das wissen wir auch. Denn dass wir in Vielem nicht vorbereitet waren, zeigte sich sehr schnell. Auch deutsche Gesundheitsminister ticken ja so: „Lass doch die WHO reden. Was interessiert das mich?“
Verschärfte Wahrnehmung
Und noch etwas steckt in diesen Fotos – neben dem Erschrecken über die Leere: Wie lebendig dieses Herz der Stadt nämlich ist, wenn so etwas nicht passiert. Sonst fährt man ja völlig gedankenlos da hin, drängelt sich in Geschäfte, freut sich über freie Tische im Café, schiebt sich mit Einkaufstüten durch die Passagen und weicht ganz automatisch den entgegenkommenden Leuten aus.
Man nimmt gar nicht mehr wahr, dass man in einem architektonisch sogar sehr reizvollen Stück Stadt unterwegs ist, wo man die Kulisse schon kennt und sonst immer Lärm und Leben darin ist. So ist den drei Fotografen auch so manches Architekturfoto gelungen, das gerade mit seiner Leere zeigt, wie sehr die City auch eine Bühne ist. Eine Bühne, die geradezu danach schreit, dass sie betreten und erfüllt wird, dass Menschen darin herumlaufen, die nicht mal ahnen, dass sie auf einer Bühne mit faszinierenden Kulissen unterwegs sind.
Denn diese Straßen – das ist auf einmal unübersehbar – sind genau so gebaut, dass sie erst mit hunderten Menschen darauf funktionieren. Erst dann werden sie das, was auf den blauen Straßenschildern steht, bekommen die Leuchtreklamen, Bänke und Brunnen einen Sinn.
Der Lärm ging anderswo trotzdem weiter
Ein Eindruck, der sich ebenso mit dem Blick in die menschenleere Mädlerpassage bestätigt oder in den eindrucksvollen Bildern aus dem von Menschen verlassenen Hauptbahnhof. Da konnte sich auch ein einzelner Fotograf sehr einsam fühlen und beim Blick auf die völlig leere Brandenburger Brücke oder die völlig verwaiste Autobahn an diverse Katastrophenfilme aus Hollywood denken.
Einen Moment lang war vorstellbar, dass unsere Welt all die übermotorisierte Geschäftigkeit vielleicht gar nicht braucht, all dieses Gerase, Gelärme, Gehupe und Just-in-Time. Als wenn wir all unsere lächerlichen Wünsche immerzu sofort erfüllt haben müssten. Obwohl ja etliche Zeitgenossen auch in diesen stillen Wochen nicht verzichten wollten und die Just-in-Time-Maschine der großen Online-Händler erst recht zum Rotieren brachten.
Diese Bilder sind ja tatsächlich nur ein Teil dessen, was geschah. Während das Herz der Stadt still stand, wurde anderswo weiter geflogen, verpackt und Vieh am Fließband geschlachtet.
Faszinierende Fülle in der Leere
So gesehen war diese menschenleere Stadt auch ein kleines Geschenk – wenigstens für Fotografen, die die architektonische Würde dieser Straßen und Plätze einmal ganz ohne all das Gequirle und Gedrängel ablichten konnten. Denn auch das wird so auf einmal sichtbar: die angenehme Würde dieser City, die ja immer wieder unter die attraktivsten Reiseziele Deutschlands gewählt wird, auch wenn die Juroren oft selbst nicht wissen, warum ausgerechnet Leipzig so anziehend ist und nicht etwa München oder Köln.
Vielleicht sieht man es in diesen Fotos so deutlich wie noch nie. Auch wenn einen diese Verlassenheit erst einmal verwirrt. Aber auch daran erinnert, dass wir durchaus fähig sind, uns zu disziplinieren, wenn es wichtig ist. Denn wir waren ja alle noch da. Nur eben zumeist zu Hause in banger Erwartung, ob es klappt und ob denn bald wieder ein Alltag möglich wäre wie vorher.
Nicht nur die City-Wirte warteten mit Hochspannung auf diesen Tag. Es ist auch eine wartende Stadt, die wir da sehen. Und wenn wir Glück haben, ist es bald nur noch eine seltsame Erinnerung, aufgehoben in einem gerade durch seine Leere faszinierenden Fotoband.